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Tatort Glashaus – Vorschau Kapitel 1

Tankred Jürg Gustav Adolf Graf Brühlsdorf, genannt TJ, war zu einem Teil Philosoph. Zu einem weiteren Teil war er Kriminalhauptkommissar und als dieser bei vollen Bezügen wegen einer schweren Verletzung beurlaubt. Die Amtsärztin und auch er selbst waren sich noch nicht klar, ob er in den aktiven Polizeidienst zurückkehren können würde oder wollte. Zu einem dritten Teil war er von blauem Blut und ziemlich wohlhabend, um nicht zu sagen steinreich. Er hätte nie arbeiten müssen, wenn er nicht gewollt hätte.

Wollte er aber.

Als einzigem spätgeborenem Sohn alten Adels und eines Vaters, der ein ausgezeichneter Geschäftsmann gewesen war und selbst schon äußerst unkonventionell, was sich unter anderem darin ausdrückte, dass er seine spätere Mutter freite und ehelichte, die zwar adelig, aber das schwärzeste aller möglichen Schafe und völlig verarmt und anschließend total enterbt war, als sie einander verfielen. Es wurde eine Liebe bis ins Grab, und was für eine! Last, but not least – oder auch zu guter Letzt – war TJ das, was man früher einen Hagestolz nannte: kurz vor vierzig, keinen Partner, weder männlich noch weiblich noch divers, um korrekt zu gendern.

Und keinen in Aussicht.

Seine Verletzungen waren gerade verheilt. Oberflächlich. Schwere Schussverletzungen brauchten lang, bis man ihre Folgen überwunden hatte. Schmerzen waren sein dauernder Begleiter. Auch nachts, nicht nur tagsüber. Mit einem Bauchsteckschuss, einem Durchschuss des linken Oberarms, einem Durchschuss des rechten Unterschenkels, bei dem das Schienbein zerschmettert wurde, und einem Kopfschuss, der zum Glück das Gehirn, Augen und Gehör verschont hatte, dafür aber sein linkes Jochbein pulverisiert, hatte man danach seinen richtigen Spaß. Von den Fleischwunden und sonstigen Blessuren einmal abgesehen: Es dauerte eine lange Zeit und bedurfte mehrerer OPs, um ihn wieder aufrecht und einigermaßen ansehnlich durch die Gegend hinken zu lassen. Es würde noch weitere OPs bedeuten und viele Mobilisierungsrehas, um ihn körperlich wieder auf Linie zu bekommen. Wenigstens fast. So fit wie vorher würde er nie wieder sein. Das war ihm klar.

Die Psyche stand auf einem anderen Blatt. Der polizeipsychologische Dienst in Form einer ebenso klugen wie patenten Psychologin mit viel Erfahrung bei ähnlichen Verletzungen und Traumata hatte ihm eine hohe Resilienz bescheinigt. Seine Flashbacks hatte sie nicht damit beseitigt. Da sie recht milde ausfielen, war eine medikamentöse Behandlung glücklicherweise nicht angezeigt. Aber Gesprächstherapie schon.

Doch dazu bedurfte es der geeigneten Person mit freien Terminen. Sein Zustand war nicht als dringlich eingestuft. Es gab viel zu wenig Therapeuten da draußen. Und da er draußen war und nicht mehr im aktiven Polizeidienst, meinte draußen genau das, was es bedeutete: draußen. Der polizeipsychologische Dienst war nicht mehr zuständig. Er hatte sich das in seiner Konsequenz telefonierend vor Augen geführt und dann entschieden, das mitzunehmen, was ging. Therapietermine während der Rehas. Mehr gab es eben erst einmal nicht. Wenigstens in den kommenden sechs bis neun Monaten. Er stand auf einigen Wartelisten. Mal sehen, wie lange er dort stand. Und wartete.

Sich als Estragon und Wladimir in einem zu fühlen, bereitete ihm nach einer gewissen Zeit fast diebisches Vergnügen. Die Welt war nichts als absurdes Theater – Beckett hatte recht. Es wäre allemal wirtschaftlich günstiger zu therapieren, als den Ausfall des Betroffenen für das Erwerbsleben finanziell zu kompensieren. Oder aber die Folgekosten der sozialen Unverträglichkeiten eines an PTBS Erkrankten auszugleichen – wenn man diese denn ausgleichen könnte. Bei ihm, gestand er sich nüchtern und beinahe ein wenig bedauernd ein, gab es an privatem Umfeld nicht viel zu zerstören. Er hatte fast keines. Die Eltern waren lange tot. Eine Partnerschaft, wie gesagt, gab es nicht. Verwandte waren eher fern und allenfalls an seinem Vermögen interessiert. Gesellschaftlich und sozial war er eher ein Totalausfall.

Er stand unter der Dusche, denn dort kontemplierte es sich interessanterweise recht gut. Inzwischen waren die Haare gewaschen und der Körper auch. Die Füße und der Rücken machten immer noch Schwierigkeiten. Die Beweglichkeit ließ seit dem fatalen Einsatz, der ihn genauso gut das Leben hätte kosten können, ja eigentlich sogar müssen, weiterhin sehr zu wünschen übrig. Wenn ihn etwas neben den Flashbacks störte, dann das.

Er hasste es, nicht tun zu können, was er wollte und für normal hielt. Als er an sich hinuntersah, zeigten ihm seine Narben, wie schwer verwundet er worden war. Die Wunden würden vernarben, aber blieben. Innen wie außen.

Aber was führte er Klage. Er hatte Kolleginnen und Kollegen verloren, die Teil der Operation waren. Er hatte die beiden Schutzbefohlenen nicht schützen können. Auch sie waren gestorben. Salima, sein Herz, war tot. Sie waren verraten worden, und er wusste bis heute nicht, von wem, warum und wie.

Er atmete tief durch, als ihn Trauer und Wut übermannten. Tränen vermischten sich mit dem warmen Wasser der Dusche. Seufzer brachen sich Bann, und ein Knoten löste sich. Es tat weh und gut zugleich. Als er wieder bei sich war, hörte er ein fernes Klingeln. Das Telefon, seine Spezialnummer, die nur die Schwerpunktstaatsanwaltschaft und die Kriminalinspektion 4 „Organisierte Kriminlität und Rauschgiftkriminalität“ im Polizeipräsidium Reutlingen kannten. Er ließ das Telefon schellen. Es betraf ihn nicht.

Er war außer Dienst gestellt, wenn auch nicht frühpensioniert. Noch sperrte er sich gegen einen Neubeginn. Polizist, Kriminalbeamter zu sein, war bisher seine Berufung. Es war mehr als einfach ein Job. Er musste seinen Lebensunterhalt nicht verdienen, indem er etwas tat, das er tun musste des Geldes wegen. Er war bei der Polizei, um der Welt etwas dafür zurückzugeben, dass er privilegiert war. Es war ihm ein Herzensanliegen, das Leben anderer sicherer zu machen.

Stattdessen hatte er ihnen den Tod gebracht.

Als er das Badezimmer verließ, sah er für einen Moment aus, wie er früher ausgesehen hatte: groß, gepflegte dunkle Haare mit grauen Schläfen, hohe Wangenknochen, ein sympathisches, gut geschnittenes Gesicht mit dominierend blauen Augen unter ausgeprägten, schön geschwungenen Brauen; ein schöner Mund mit einem warmen Lächeln; anliegende Ohren mit ausgeprägten Läppchen; Fünftagebart mit Schnauzeransatz; breite Schulter, muskulöse Arme und Beine; sportlich und durchtrainiert. Jeans und T-Shirt standen ihm. Die Sneakers waren teuer, das sah man. Der Rest stammte aus einem Katalog, da er das Einkaufen hasste. Man sah ihm an, dass er regelmäßig mit einem ausgebildeten Physiotherapeuten an seiner Wiederherstellung arbeitete. Er quälte sich regelrecht. Tag für Tag. Ohne nachzulassen, unter teilweise großen Schmerzen.

Als er sich umwand und in Richtung Arbeitsräume ging, war zu erkennen, dass er hinkte. Er zog den rechten Fuß merklich nach. Die Muskeln waren immer noch nicht wiederhergestellt, wie sie sein sollten, und schon gar nicht, wie sie mal waren. Vielleicht würden sie es nie wieder sein. Man durfte die Hoffnung nicht aufgeben, aber man durfte auch nicht blauäugig sein und sich vor der realistischen Sicht der Dinge drücken.

Er war nicht der, der sich etwas einredete. Hoffte er. Jedenfalls hatte er sich im Sporthallen-Anbau seiner Gründerzeitvilla ein Studio einrichten lassen, um das ihn jeder Fitnessclub beneidet hätte. Manchmal überkam ihn ein schlechtes Gewissen, wenn er daran dachte, wie es all den Kolleginnen und Kollegen ging, die nach einem solchen Einsatz und ähnlichen Verletzungen nicht über die entsprechenden Finanzmittel verfügten, wie er es tat. Er würde etwas unternehmen müssen. Und wenn er dafür in die eigene Tasche griffe.

Das erneute Klingeln mit dem speziellen Klingelton schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Er wollte schon abwinken. Doch ein Impuls bewog ihn, den Hörer abzunehmen.

„Brühlsdorf!“, meldete er sich mit seinem sonoren und wohlklingenden Bariton.

„Clementelli!“, kam die prompte Antwort einer tiefen Altstimme.

„Was willst du, Isodora?“

Isodora Clementelli, von ihren Freunden und engen Mitarbeitern am liebsten „Isa“ genannt, antwortete kühl: „Du hast dich nicht geändert, Brühlsdorf.“

Er schwieg.

„O. K., du bist außer Dienst, aber wir brauchen deine Hilfe.“

Er schwieg weiterhin.

„Bist du noch da?“

Er nickte. „Was willst du, hatte ich gefragt. Beantworte einfach die Frage.“

Sie schluckte. Am liebsten würde sie den Hörer auf die Gabel werfen, hätte sie nicht ihr Smartphone in der Hand, wusste er. Er grinste leicht spöttisch. Sie waren früher wie Katz und Maus gewesen, aber dennoch ein sehr erfolgreiches Ermittler-Duo. Sie bei der Staatsanwaltschaft. Er bei der Kripo.

„Lass uns reden“, sagte sie.

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