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Das Neumondmonster

Eine Graf-Brühlsdorf-Story

Zu einer ordentlichen Kriminalgeschichte gehörte der Ruf eines Käuzchens in rabenschwarzer Nacht. Also Neumond, dicker Nebel, Windstille und wenigstens Ende Oktober, nein, besser, viel besser: Mitte November. Affenkalt durfte man das nicht mehr nennen, schalt sich der einsame Spaziergänger. Halt: Er war nicht einsam. Eine Promenadenmischung namens Lassie raschelte wuselnd durch die gefallenen Blätter und fühlte sich im Gegensatz zu ihrer menschlichen Begleitperson anscheinend pudelwohl. Und das, obschon sie alles andere als ein Pudel war.
Ihr menschlicher Mitläufer, Kriminalhauptkommissar a.D. Graf Brühlsdorf, schlug den Kragen seiner Windjacke hoch. Er hatte seinen Schal vergessen. Manchmal war er einfach zu vergeistigt, warf ihm Henriette Walcher, seine Hausdame und Ersatzmutter, vor. Er räumte lächelnd ein, dass daran leider viel wahr war.
Die Energiekrise hatte dazu geführt, dass die zuvor gleißend hellen, mit LEDs bestückten Straßenlaternen heruntergedimmt waren und zu aller Freude der Bürger der kleinen schwäbischen Universitätsstadt Tübingen außerdem jeder zweite von ihnen abgeschaltet. Seitdem ging von den weiblichen Mitbewohnern seiner Villenwohngemeinschaft niemand mehr mit Lassie nach Einbruch der Dunkelheit spazieren.

In geziemender Entfernung begleitete ihn heute als absolut unsichtbarer Schatten Gérard Koberl, Major a.D. des österreichischen BKA und sein Sicherheitschef. Er war diesmal eingeteilt. Eigentlich hielt Brühlsdorf das mit der Begleitung für den totalen Overkill. Aber wenn es sein Mann- und Frauschaft beruhigte, sollte es so sein. Aber beglucken wollte er sich auch nicht gerade lassen. Er konnte sich als frisch gebackener Gong-Fu-Meister sehr gut selbst verteidigen, und seinen Hightech-Stock hatte er auch dabei.
Alles easy, also. Sollte man meinen. Nur war dem nicht so. Seine Umgebung meinte anders. Um des lieben Friedens willen hatte er sich auf den Deal eingelassen, dass er seinen Schatten nicht bemerken durfte. Selbst darüber sah er schmunzelnd hinweg. Denn natürlich sah er sie bzw. ihn. Er war schließlich trainiert in solchen Dingen.
Doch dieses Mal war es anders. Man sah wirklich nichts und niemanden, wenn der oder die mehr als zehn Meter von einem entfernt waren. Diese Nacht hatte es in sich. Das Käuzchen rief erneut. Lassie schien zu erstarren und witterte prüfend. Ihr Schwanz stand in die Höhe und zitterte leicht. Dann entspannte sich der Hundekörper wieder.

Sie wandte sich um, schnürte zu ihm nicht so ganz auf dem direkten Weg und stupste ihn in seine linke Wade. Sie blieb einige Schritte bei ihm, zupfte leicht sein Hosenbein und sprang dann wieder nach vorne, so weit, dass man sie kaum noch sah.
Bald würde der kleine Park, der Alte Botanische Garten, kommen, in dem sie es sich unter gar keinen Umständen nehmen ließ, ein wenig Fangen mit ihm zu spielen. Er musste ihr Spielzeug, einen mit Rosshaar gestopften Türvorleger aus Leder, wegwerfen, und sie würde es zurückbringen. Das würde er ein paar Mal machen müssen – auch wenn man beinahe nichts sah.
Das Spielzeug hatte Brühlsdorf extra im Backpack mit dabei. Trotz der unwirtlichen Umgebung – der Nebel hatte auch noch richtig zu nässen begonnen – freute er sich nicht so ganz richtig auf die Tollerei, aber ein wenig schon. Schließlich machte es der Hündin großen Spaß. War das nicht allein den Jux wert? Brühlsdorf lächelte bei diesem Gedanken. Nur würde er diesmal das Spielzeug gar nicht brauchen.

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Wieder ein schriller Schrei, nur diesmal war es nicht der eines Käuzchens. Es war ein Mensch, und zwar einer weiblichen Geschlechts oder noch nicht im Stimmbruch. Um diese Tages- oder eher Nachtzeit sprach alles für Ersteres. Der Terror in dieser Stimme durchfuhr Hündin wie Herrchen.
Das Adrenalin schoss in ungeahnte Höhen, und aus dem eher gemächlichen Gang des Herrchens wurde explosionsartig ein Rennen. Die Hündin machte es ihm gleich. Beide rasten regelrecht um die nächste Straßenecke in Richtung Park. Denn da, genau da, war die Stimme hergekommen.
Kurz darauf gellten Käuzchen- und Menschenschrei hintereinander, nein, fast parallel. Hund und Mensch flogen jetzt beinahe. Die Zunge hing Lassie links über die Lefze, und auf Brühlsdorfs Rücken führte das Backpack einen wilden Tanz auf. Endlich hatten sie die Wiesenfläche, fast eine Lichtung, erreicht.

Brühlsdorf sah im Augenwinkel eine dunkle Gestalt davonhasten, Lassie raste hinter ihr her. Sie war noch schneller als der gewiss nicht unsportliche Brühlsdorf, der allerdings so langsam seine Verletzung im rechten Unterschenkel spürte und sich entschied, die Verfolgung abzubrechen und sich besser des Opfers anzunehmen.
Er bremste ab und begann, die Umgebung des Alten Botanischen Gartens abzusuchen. Der dichte Nebel und die nicht gerade optimale Beleuchtung vereinfachten sein Vorhaben nicht gerade. Brühlsdorf rief sich die Richtung in Erinnerung, aus der die fliehende Gestalt gekommen war. Sie hatte einen Mantel mit wehenden Schößen getragen.
Er hörte Lassies wildes Bellen. Sie musste den Verfolgten gestellt haben. Dann erklang ein lauter Fluch, der einer heiseren Männerstimme ausgestoßen wurde. Kurz darauf jaulte die Hündin. Zeitgleich eilte Brühlsdorf in die erinnerte Richtung, bis er eine Baumgruppe erreichte, die man schlecht einsehen konnte. Etwas in ihm sagte ihm, dass er dort eine Entdeckung machen würde, die ihn noch länger beschäftigen sollte.

Er begann sich zugleich Sorgen um Lassie zu machen. Sie müsste schon lang wieder bei ihm sein. Er bewegte sich vorsichtig an die Baumgruppe heran, umrundete sie und versuchte, die Schwaden zu durchdringen. Auf einmal erkannte er eine schmale Gestalt, die an einen Baumstamm gelehnt oder an ihm befestigt zu sein schien.
„Hallo, kann ich Ihnen vielleicht helfen?“
Keine Reaktion. Er ging vorsichtig hinüber. Als er vor der Gestalt stand, bemerkte er, dass sie am Baumstamm festgebunden worden war. Er fasste sie an und stellte fest, dass sie auf seine Berührung nicht reagierte. Er fühlte den Puls an der Halsschlagader. Allein, da war keiner mehr.
Jetzt setzte die Routine ein. Brühlsdorf war auf einmal wieder Polizeibeamter. Er rief Linus Reusch an, den Leiter der Kriminalinspektion 4 im LKA Reutlingen. Die jetzigen Beamten von der an und für sich zuständigen Inspektion 7 kannte er nicht. Linus würde den Kriminaldauerdienst informieren. Das war der beste Weg.

Linus meldete sich sofort. „TJ, was ist? Ein bisschen spät für einen Freundschaftsanruf.“
„Ich stehe im Alten Botanischen Garten Tübingen vor einer weiblichen Leiche. Würdest du bitte die Kollegen vom KD losschicken. Ich sende dir die Geodaten.“
„Du nimmst mich nicht auf den Arm, Brühlsdorf, nicht wahr?“
„Leider nein, Linus, leider nein.“
Brühlsdorf beendete das Gespräch.

Er leuchtete mit der Taschenlampen-App den Fundort aus und scannte ihn ab. Danach erstellte er ein Video. Er hatte die Gewissheit, dass er dieses Video noch benötigen würde. Die Zurichtung des Tatorts roch nach einem Serienverbrechen. Die Leiche war auf eine besondere Weise an den Baum dekoriert. Es gab keine sichtbaren Verletzungen. Kein Blut.
Nun, wie sie vom Leben zum Tode gekommen war, das würden Forensik, Spurensicherung und Gerichtsmedizin herausfinden. Er wusste sehr gut, wie wichtig es war, einen Tatort möglichst nicht zu kontaminieren. Also tat er das Naheliegende. Er sicherte das Terrain und sorgte sich um Lassie, die immer noch nicht da war.
Da sah er etwas herbeihinken. Als er sie endlich erkannte, spurtete er zu Lassie hinüber. Sie fiepte leise und leckte ihm sein Gesicht ab, als er sie umarmte. Sie zitterte. Ihr Schwanz war eingeklemmt. Sie hatte Schmerzen. Der Flüchtende musste sie getreten haben.

Auf dem Boden vor ihrem Kopf fand er ein Stück Stoff. Sie musste den Täter also erwischt haben, vielleicht sogar gebissen. Er wischte mit einem Stofftaschentuch die Schnauze und die Zähne Lassies aus. Beides packte er in ein Plastiktütchen. Er hatte so etwas immer dabei. Natürlich auch die Plastik-Handschuhe, sie hatte er zuvor wie automatisch übergestreift.
Brühlsdorfs Smartphone vibrierte. Auf dem Display erkannte er, dass Gérard Koberl anrief.
„Gérard, mir geht es gut. Aber ich habe eine Tote entdeckt. Die Polizei ist schon alarmiert. Lassie ist verletzt. Organisierst du einen Termin in der Tierklinik? … Du hast doch die Nummer von der Tierärztin. … Danke dir, Gérard … Bis gleich.“

Er bettete den Kopf der Hündin auf seinen Schoß und kraulte sie an ihrem Kopf. Und Lassie seufzte, als wäre sie im Himmel.

– – -​

Es dauerte eine ganze Weile, bis Brühlsdorf wieder etwas vom LKA in Reutlingen hörte. Die Kriminalinspektion 1 hatte den Fall übernommen. Das Opfer war eine junge Tübingerin namens Mara Deuschle, die an der Universität studierte. Der Druck auf die Kripo war groß. Es wurde eine Sonderkommission gebildet. Allerdings kamen die Ermittler bei aller Akribie nicht weiter. Alle Ansätze verliefen im Sand.
Nach über sechs Monaten schließlich rief Linus Reusch an. „TJ, die Kollegen stecken fest. Ich habe ihnen von deiner Tätigkeit als Profiler erzählt. Du hast den großen Vorteil, dass du die Umstände schon kennst. Man will mit dir reden.“
„Hm, eigentlich bin ich gerade in einem anderen Fall vergraben. Wer ist denn der ermittelnde Staatsanwalt? Und war der leitende Ermittler?“
„Du bist immer noch der Alte, TJ. Die Staatsanwältin wohnt unter deinem Dach. Sie hat den Fall gestern übernommen, weil man feststeckt. Man erwartet Wunder, nicht weniger. Du weißt doch, wie’s ist. Der Leiter der Sonderkommission heißt Günther Schütterle. Er kennt dich, sagte er zu mir.“

„Brühlsdorf, altes Haus. Alles aufrecht?“
Der Angesprochene mochte diese Art Macho-Anmache gar nicht, sah aber darüber hinweg. „To cut a long story short, Günther. Ihr steckt fest und braucht einen neuen Ansatz. Richtig?“
Er vernahm ein hörbares Schlucken, das in ein nervöses Räuspern überging. „Du hast den wunden Punkt getroffen.“
Stille.

Stille war schonmal gut. Er hatte keine Lust auf privaten Smalltalk. Das hatte er eh selten. Unter Kollegen fand er das schon früher weniger prickelnd.
Brühlsdorf lächelte sardonisch. Zum Glück sah das keiner. Aber ums Nettsein ging gerade nicht. „Fein“, meinte er,“ihr solltet die Datenbank der offenen Fälle der letzten fünf bis zehn Jahre durchsuchen. Deutschlandweit. Konzentriert euch auf Universitätsstädte.“
Er machte eine kurze Pause. „Die wesentlichen Tatmerkmale sind: Stich ins Herz mit einem Stilett. Das Opfer Studentin unter dreißig Jahren. Beim Auffinden an einen Baum gebunden. Tatort: Wald, Lichtung oder Park, aber nicht sofort einsehbar.“

„Woher weißt du das alles?“ Hauptkommissar Schütterle klang ziemlich erstaunt.
„Tu’s einfach. Und ruf mich danach an, wenn ihr etwas gefunden habt.“

– – -​

„Sag mal, Brühlsdorf,“ zischte Isodora Clementelli, als sie ebendiesem in der Eingangshalle der Villa begegnete, als sie vom Arbeiten kam und er mit Lassie gassigehen wollte, „seit wann bist du so drauf, wenn du mit deinen Ex-Kollegen über einen möglichen Auftrag sprichst? Ich habe den Günther Schütterle regelrecht coachen müssen.“
„Achiwo, so schlimm?“ Brühlsdorf war heute emotional in trés blasé gewandet. „Der Herr Hauptkommissar hätte bereits gleich zu Anfang fragen können. Meine Aussage steht in den Akten. Ich hatte die Vermutung geäußert, dass das nach einer Serientat riecht.“
Die ermittelnde Oberstaatsanwältin baute sich vor ihm auf. „Nicht alle sind so schlau wie du, Herr Graf Koks.“
Wo sie recht hatte, hatte sie recht, die liebe Isa, räumte Brühlsdorf insgeheim ein. Sagen tat er etwas anderes.

„Ich bin bis oben voll, aber für meine Lieblingskunden und beste Freundinnen und Freunde werde ich irgendwie noch ein paar Minütchen finden.“
„Du bist ein arrogantes Arschloch, TJ. Aber leider der beste Profiler, den ich kenne.“
Sie wandte sich um und marschierte grußlos in Richtung Salon, wo ihre Familie sehnsüchtig auf sie mit dem Abendessen wartete. Die Kinder hatten bereits gegessen, Friedrich J. Schmidt stocherte auf seinem Teller herum und war etwas angesäuert.

Brühlsdorf sagte „Lassie!“, und die Hündin eilte freudig wedelnd zu ihm. Sie zog ganz leicht ihren rechten Hinterlauf nach – so wie er das rechte Bein. Man erkannte es nur, wenn man genau hinsah.
Der Täter hatte damals den Oberschenkelknochen der Hündin mit einem gewaltigen Tritt zertrümmert. Sie konnten von Glück reden, dass die Klinik ein kleines Wunder vollbrachte und den Knochen und das Bein retten konnte. Die Narbe blieb sichtbar – ebenso wie dieses leichte Hinken. Sonst war Lassie wieder ganz sie selbst.

– – -​

Es war klar, dass der Anruf kommen würde. Sogar der Antrag, Brühlsdorf als Experten zu den Ermittlungen der Sonderkommission ‚Mara‘ hinzuzuziehen, war bereits gestellt und mündlich von ganz oben genehmigt. Die E-Mail der Oberstaatsanwältin lautete ohne jeden Betreff:
„Du bist an Bord.“

Die Bartstoppeln knisterten. Er beschloss, für eine Rasur keine Zeit zu haben, putzte die Zähne und wusch sich. Das Smartphone machte Radau und hoppelte auf der Anrichte, wo er es deponiert hatte. Es meldete sich exakt, als er in Jeans, T-Shirt und Sneakers aus der Badtür herauskam.
Die vierköpfige Rasselbande würde demnächst durch die Tür brechen, die seinen Reich von dem der Kids trennte. So sehr er jedes der Kinder liebte, fürchtete er sich jeden Morgen vor dem gestiegenen Lärmpegel, den er andererseits aber nicht wirklich missen mochte. Das war Leben pur und erinnerte ihn daran, worauf es wirklich ankam.

„Morgen, TJ, du hattest leider recht. Wir haben mindestens drei Fälle, die dem unseren hier in Tübingen verblüffend ähneln.“
„Grüß dich, sorry, dass ich so ätzend war. Bissle viel los grad, zu wenig Schlaf.“
„Ist OK. Ich kenn das.“ Das hätten wir abgeräumt, dachte Brühlsdorf. Er hätte in diesem Fall wirklich sehr gern darauf verzichtet, recht zu bekommen.
„Danke, dass du meine lahme Entschuldigung annimmst. Zum Thema. Sind die Akten der anderen Fälle archiviert?“

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Brühlsdorf war berühmt und berüchtigt für diese Art unangenehmer Fragen. Sie, die Fallakten, waren es, erstens, nicht alle, und sie waren, zweitens, wenn sie es waren, dem Föderalismus sei Lob, Preis und Dank, nicht im gleichen Archivsystem.
Super. Danke für nichts. Er verbiss sich jeden Kommentar. Die Ermittler konnten schließlich nichts dafür.

„Fein. Dem kann abgeholfen werden.“
Der Rest war eine Bürokratie- und Genehmigungsorgie, die rund vier Wochen dauerte. Das war für solche Verhältnisse verdammt schnell. Und einzig und allein der bissigen Isodora Clementelli zu verdanken. Die Waden der entscheidenden Herren (immer noch die Normalität, leider) hatten Spuren ihrer durchaus beeindruckenden oberen und unteren Zahnleisten. Aber sowas von. OK, der Tübinger OB Berthold Pappel half mit. Der konnte auch kräftig zubeißen, bei Bedarf. Und den gab’s.
In der Zeit konnte Brühlsdorf mit seinen Spezialisten den anderen laufenden Fall seiner Lösung näherbringen. Leider musste man in dieser Phase hoffen, dass der Serientäter nicht ein weiteres Mal zuschlug. Sie hatten bisher Glück. Hoffentlich. Einen echten Überblick für dieses Tatmuster gab es schließlich nicht.

Schließlich hatten Friedrich J. Schmidt und sein Team von IT-Nerds Papierakten und CDs mit Akten aus unterschiedlichen Archiven mit dem entsprechend verschiedenen Dateiformaten und Datenbankstrukturen sowie Verschlagwortungen. Heute nannte man Letzteres Indices und Tags. Egal. So einfach mal eine Suche reinhämmern war nicht. Die wahre Freude eben.
Doch der liebe Frederico Schmidt, wie man ihn auch nannte, wäre nicht Frederico, wenn er diese kleinere Herausforderung nicht angenommen hätte. Keine 36 Stunden später meldeten sein Team und er Vollzug. „Fünf Akten drin und verwurstet. Du könntest reinhauen, Chef.“
Und der tat anschließend genau das.

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Gegen drei Uhr morgens hatte er die Tatmuster detailliert und ausgearbeitet:

1. Alle Opfer waren weiblich und unter fünfunddreißig.
2. Vier von fünf studierten Literatur-, Sprach- oder Theaterwissenschaften.
3. Drei von fünf besuchten einen Kurs in Literarischem Schreiben.
4. Alle waren einen Baum gebunden, der auf einer Lichtung oder in einem Park stand. Die Tat fand an Neumond statt.
5. Alle waren mit einem Stich ins Herz mit Hilfe eines Stiletts oder ähnlichen Gegenstands getötet worden.
6. DNA-Anhaftungen, die man gefunden hatte, lösten keinen Treffer in den einschlägigen Datenbanken aus.

Jetzt galt es, Punkt 3 zu erhärten. Dazu mussten die Ermittler in Marburg und Heidelberg nochmals ran. Brühlsdorf übermittelte das Ergebnis und die begleitende Bitte, noch bevor er todmüde in sein Bett fiel.
Seine Rasselbande kannte kein Erbarmen und rüttelte ihn am nächsten Morgen wach. Kein Wunder, dass seine Laune einen Tiefpunkt erreicht hatte, als die Oberstaatsanwältin gegen elf Uhr anrief.

„Ja?“
„Was ist denn mit dir los, Brühlsdorf?“
„War nicht nur spät, sondern früh heute.“
„Hab’s gelesen. Die E-Mail war um drei Uhr siebzehn und dreiundvierzig Sekunden. Ich bin dir saumäßig dankbar für deinen Einsatz. Ehrlich.“
„Schön. Danke als E-Mail hätte gereicht.“
“OK, Brühlsdorf. Ich gelobe Besserung.“
„Tatsächlich.“
„Themawechsel. Ich habe die Nachricht, dass ein weiteres Opfer im Kurs für Literarisches Schreiben war. Deine Überlegungen sind goldrichtig. Du bist und bleibst der Beste.“
„Was bringt es, wenn man den Mördern immer nur hinterherrennt. Es ist frustrierend, einfach nur frustrierend.“

– – -​

Es dauerte weitere vier Wochen, bis auch das fünfte Opfer dem Kurs für Literarisches Schreiben zugeordnet werden konnte. Damit rückte die einzige Konstante dieses Seminars, das Teil des sogenannten Studium-Generale war, in den Mittelpunkt des Verdachts: der Kursleiter, ein Herr Doktor Fridtjof Paulsen.
Dr. Paulsen wurde bisher nicht befragt – warum auch immer. Brühlsdorf war damit sehr unglücklich. Günther Schütterle ging es nicht viel anders. Der Dozent war Freiberufler mit Wohnsitz im Süden des Großraums Hamburg. Er reiste viel und war in der Regel immer nur für die Seminarveranstaltungen vor Ort.
Die Ermittlerkollegen in den anderen Bundesländern hatten es nicht mehr eilig. Offensichtlich. Die Fälle waren Altfälle. Sie waren in der Priorität nach hinten durchgereicht worden. Die laufenden, sog. ‚heißen‘, Fälle standen im Vordergrund. Die Aktion aus dem Ländle schien dem einen oder der anderen zu viel Wind zu sein, hinter dem man wenig vermutete.

Brühlsdorf versuchte, darüber hinaus zu erschließen, was im Täter vorging, als er diese Taten durchführte. Der Stich ins Herz schien zentral zu sein. Der Täter fühlte sich vom Opfer mit einem Stich in Herz versehen. Das war naheliegend. Sein Team im Forschungsbereich forensische Psychiatrie war zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen.
Die Opfer wurden weder vergewaltigt oder sexuell beschmutzt. Es gab für den Mord also kein sexuelles Motiv – zumindest kein offensichtliches. Aber die Tat musste eine starke Emotion ableiten. Was es Wut? Zurücksetzung? Verletzter Stolz? Untergrabene Autorität? Unterminierte Männlichkeit? Die Tat war auf jeden Fall ein Statement.

Brühlsdorf sah nicht gut aus, befand Henriette Walcher. Sie machte sich Sorgen um ihren jungen Herrn Graf.
„Tankred“, sagte sie zu ihm, als er im Salon mit den Kindern bei Kaffee und Kuchen saß, „du musch a bissle bessr uff die achta. Du siesch fascht aus wie dei eigene Leich.“
Sie stellte sich dazu mit in die Hüften gestemmten Händen vor ihn. Er sah zu ihr auf und stellte den Kopf schräg. Die Sonne schien ihm in die Augen, so dass er blinzelte.
„Mach ich, Tante Henry, mache ich.“
Sie beide wussten, dass das eine kleine Lüge war. Er würde es versuchen und daran scheitern.

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Als er am Montag aufwachte, hatte er beschlossen, der Sache ein Ende zu setzen. Am Mittwoch von 11 Uhr bis 12 Uhr 30 fand das Seminar für Literarisches Schreiben am Institut für Germanistische Sprachwissenschaft der Universität Marburg statt. Er würde am nächsten Mittwoch ebendort am Pilgrimstein 16 sein. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Eine Viertelstunde vor Schluss der Veranstaltung waren Brühldorf und seine Begleiter Kurt-Georg Walcher und James Brown vor Ort. Auch die Hunde Jerry und Lassie waren dabei. Alle Ausgänge des Vorlesungsraums waren besetzt. Es waren derer zwei. James und sein Hund Jerry hielten sich mit Abstand im Hintergrund – für den Fall der Fälle sozusagen.
Lassie war unruhig. Sie roch den Mann, der sie verletzt hatte. Brühlsdorf hatte den Stofffetzen dabei, den er damals, am 17. November, gegen 21 Uhr 40, gesichert hatte. Er hatte sie noch nicht daran riechen lassen, und dennoch reagierte sie schon so. Erstaunlich.

Während die Veranstaltung in ihre Endphase ging, schoss Brühlsdorf eine der offenen Fragen durch den Kopf. Warum ausgerechnet Neumond als Tatzeitpunkt? Nachts, das konnte er verstehen, aber warum ausgerechnet Neumond? War das – wie beim Stich ins Herz – als Metapher zu interpretieren? Wenn kein Mond und keine Sonne schienen, dann würde die Tat nicht gesehen werden? Von wem nicht gesehen?
Es war rätselhaft – wie so einiges an diesen Taten und dem Täter. Er würde versuchen, Akteneinsicht zu erhalten, um das Gutachten des Kollegen zu lesen. Es würde eines angefertigt werden. Schließlich war eine verminderte Schuldfähigkeit nicht auszuschließen. Der Rechtsstaat war barmherziger als die Täter und die Angehörigen der Opfer. Daran musste man sich mühevoll gewöhnen.

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Schließlich öffneten sich die Türen, und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, in großer Mehrheit junge Frauen, strömten anfangs heraus, sich miteinander gestikulierend austauschend. Einige Augenblicke später tröpfelte es nur noch nach draußen. Brühlsdorf nickte seinem Vertrauen Kurt-Georg Walcher zu. Dieses wusste sofort, worum es ging.
Er schlüpfte durch die linke hintere Tür, um sich einen Überblick zu schaffen. Noch umstand den Dozenten eine kleine Gruppe Studierender. Nach und nach verließen auch sie den Raum. Der Dozent beugte sich über seine Unterlagen. Kurt-Georg Walcher sandte einen Code an seinen Chef und den Kollegen James Brown.
Brühlsdorf ließ Lassie am Stoffrest riechen. Diese fiepte leise und begann zu zittern. Er beugte sich über sie und küsste sie auf ihre Nase, beruhigende Worte flüsternd. Währenddessen hatte sich James Brown mit Jerry an der zweiten Tür positioniert. Brühlsdorf erhob sich und nickte ihm zu.

Beide betraten zeitgleich den Raum. Als Lassie des Manns am Dozentenpult ansichtig wurde, entrang sich ein grollendes Knurren ihrer Kehle. Brühlsdorf nahm die Leine kurz und hob den Zeigefinger. Die Hündin moserte, gehorchte aber halbwegs.
„Was machen Sie denn hier“, beschwerte sich Dr. Fridtjof Paulsen vernehmlich. „Guten Tag, Dr. Paulsen, Brühlsdorf mein Name. Wir hatten bereits am 17. November letzten Jahres gegen 21 Uhr 35 im Alten Botanischen zu Tübingen die Ehre und kein Vergnügen, wenn ich mich nicht irre. D.h. mein Hund Lassie hatte sie.“
Der Dozent verfiel einen Moment in Schockstarre. Diesen Augenblick nutzte Brühlsdorf, um sich – mit Lassie direkt am linken Oberschenkel – in großen Schritten nach vorne zu begeben. Seine Begleitung sicherte die beiden Ausgangstüren. Ein Entkommen war nicht mehr möglich. Das machte die Lage für Dr. Paulsen noch ungemütlicher.

Als er sich wieder gefangen zu haben schien, straffte sich sein Körper, und er bewegte sich schräg nach rechts hinten vom Tisch und seinen Unterlagen weg. In einer fließenden Bewegung hob er abwehrend die Hände und räusperte sich.
„Tut mir leid, das muss ein Irrtum sein. Sie verwechseln mich.“
BBrühlsdorf gab daraufhin Lassie mehr Leine. Die Hündin sprang auf den Dozenten zu und bellte wie ein Berserker, die Lefzen in bodenloser Wut zurückgezogen und die Zähne gebleckt. Es flog der pure Geifer in die Richtung des Mannes, der ihr damals so schrecklich wehgetan hatte. Sie hatte ihn eindeutig erkannt.

Dr. Paulsen schreckte zurück und brüllte: „Sorgen Sie dafür, dass Ihr Straßenköter mich in Ruhe lässt. Ich rufe sonst die Pedelle und den Sicherheitsdienst!“
Brühlsdorf tat, was ihm geheißen. Er machte einen weiteren Schritt auf den Mann zu und winkte dabei Kurt-Georg Walcher zu sich.
„Nimmst du sie bitte?“
Er wartete, bis Lassie und Walcher hinten an der Tür waren. Die Hündin knurrte und fletschte die Zähne. Als Brühlsdorf sich umwandte und ihr den erhobenen Zeigefinger präsentierte, verstummte sie. Aber sie maulte immer wieder.

„Chef!“, rief James Brown, und Brühlsdorf sah im Augenwinkel, dass der Dozent das Stilett in der rechten Hand hatte und auf ihn zustürzte.
Wie er es vielhundertmal geübt hatte, glitt er zur Seite weg. Mit einer kaum sichtbaren Bewegung sauste seine Linke mit der Handkante auf den Unterarm des Angreifers. Den Schwung nutzend fuhr sein linker Fuß nach oben und trat den Dozenten in die Pobacke, so dass dieser den Abflug seitwärts machte und in die Stuhlreihen krachte.
Den Ausfallschritt brachte Brühlsdorf seelenruhig zu Ende. In wenigen routinierten Bewegungen versah er die rechte Hand mit einem Handschuh und fischte rasend schnell das Stilett vom Boden. Er steckte es in eine hervorgezauberte durchsichtige Plastiktüte und warf die verpackte Tatwaffe in Richtung James Brown, der sie locker mit seiner behandschuhten Rechten fing.

Dr. Frithjof Paulsen kam gerade langsam wieder zu Atem, als Brühlsdorf bereits Günther Schütterle am Rohr hatte und diesem seelenruhig schilderte, wo er war und was gerade geschehen war. Der staunte nicht schlecht und aktivierte sofort seine Kollegin in Marburg, die eine Streife und den KD schickte.
„Sie haben mir den Unterarm gebrochen, Sie Arschloch!“, war der erste Kommentar des Dozenten, als er sich wieder gefangen und aufgesetzt hatte. Brühlsdorfs übliche Süffisanz war diesem etwas abhandengekommen. Fünf oder mehr junge tote Frauen hatten einen recht geringen Spaßfaktor, befand er, als er sich den Herrn und sein schmerzverzerrtes Gesicht ansah.
„Es hätte schlimmer für Sie ausgehen können, Herr Dr. Paulsen. Dabei können Sie sich sogar doppelt glücklich schätzen. Denn in Kürze und in der Zeit danach wird Sie Ihr Dasein noch viel mehr amüsieren. Dessen dürfen Sie sich sicher sein.“

Dann wandte er sich um und ging gemächlich zu seinen beiden Kollegen hinüber. „Danke, ihr beiden. Ohne euch wäre die ganze Sache doch ziemlich unschön geworden.“

– – -​

Der Rest war Routine. Zeugenaussagen. Unterschriften. Freundliches ‚Auf Wiedersehen.‘ zu den Polizisten, die den Herrn in Gewahrsam nahmen. Brühlsdorf hätte mit sich zufrieden sein können. Ehrlich gesagt wäre es ihm lieber gewesen, wenn er die junge Frau in Tübingen hätte retten können damals – wenigstens sie, wenn schon nicht die anderen.
Gegen seine Neugier zur Motivation des Täters und der Entschlüsselung der noch nicht erklärlichen Tateigenschaften würden die Akte und die Vernehmungsvideos helfen. Schließlich musste man besser werden, in dem, was man tat. Besser werden hieß schneller weitere Taten verhindern, indem man des Täters rascher habhaft wurde, nicht wahr?

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